Jamie Reigle: „Die Formel E ist ein Showcase für die Elektromobilität“.
Die Formel E fand in Berlin ein furioses Finale. Mercedes-EQ hatte doppelten Grund zum Jubeln: Den Fahrer-Titel holte sich Nyck De Vries, in der Teamwertung hatten die Stuttgarter ebenfalls die Nase vorn. Erster Gratulant war Jamie Reigle, CEO der Formel E. Im Gespräch mit Björn-Lars Blank verriet der kanadische Chef, dass die enorme Ausgeglichenheit der Serie nicht nur ein positiver Effekt sein muss und ist.
Herr Reigle, wie fällt Ihr Fazit zu diesem Jahr in der Formel E aus?
Jamie Reigle: Nun, zunächst führen wir seit diesem Jahr den Titel einer FIA-WM. Genau das wollten wir sein und mit unseren Rennen rund um die Welt abbilden. Letztes Jahr haben wir unsere Saison in Berlin mit sechs Rennen beendet. Es war gut, dass wir das in mitten in der Pandemie geschafft haben. Dieses Jahr wollten wir aber trotz aller Restriktionen rund um COVID-19 unbedingt reisen, weltweit Rennen fahren. Das haben wir geschafft. Dabei mussten wir flexibel und anpassungsfähig sein. Wir sind stolz … es ist also eine echte Weltmeisterschaft. Sportlich konnte am letzten Rennwochenende noch alles passieren, es gab viele Szenarien. Die Formel E ist unberechenbar. Das ist einerseits schön. Aber wir müssen uns anschauen, ob es richtig ist, wenn vor dem letzten Rennwochenende noch 18 Fahrer um den Titel mitfahren. Dabei geht es nicht um eine bestimmte Anzahl, sondern eher der Blick darauf, ob wir das richtige Umfeld und die Rahmenbedingungen haben, dass die besten Fahrer und Teams auch wirklich ihr Können unter Beweis stellen können.
Vor allem der Qualifikationsmodus mit der Einteilung in Gruppen, bei denen die bestplatzierten Fahrer immer in der allerersten Gruppe starten müssen und so die vermeintlich schlechtesten Streckenbedingungen haben, ist bei Fahrern und Fankreisen Gegenstand von Diskussionen. Wie stehen Sie dazu?
Jamie Reigle: Grundsätzlich ist Unberechenbarkeit etwas Gutes, aber beliebig darf es nicht werden. In den letzten Jahren sind die Teams bei der Performance immer weiter zusammengerückt. Dadurch ist die Varianz der Ergebnisse im Qualifying sehr hoch geworden. Für die kommende Saison werden wir Anpassungen vornehmen.
Berlin ist ein Art Fixpunkt im Kalender der Formel E und auch eine besondere Strecke auf dem Tempelhofer Flugfeld. Werden Stadtkurse statt traditioneller Rennstrecken weiter den Charakter einer Formel E ausmachen?
Jamie Reigle: Wenn wir den Sport ganz kurz außen vorlassen und mal allgemein werden: Die besten Produkte heben sich immer vom Umfeld ab. Was die Formel E so anders macht, ist zum einen die Tatsache, dass es vollelektrische Formelwagen sind. Dafür haben wir eine FIA-Lizenz. Dieses Alleinstellungsmerkmal kann uns also keiner nehmen. Das zweite Merkmal sind dann Städte und Metropolen. Wir müssen in die Städte! Die anderen Motorsportformate sind normalerweise nicht in Städten … aus genau den Gründen, die die Formel E so besonders machen. Es gibt keinen Motorlärm und wir können Strecken innerhalb kürzester Zeit aufbauen und abbauen. Für mich heißt das: Wir müssen uns auf diese Kerneigenschaften der Formel E konzentrieren. Klar, manchmal muss man auch pragmatisch sein. Deswegen waren wir bedingt durch die Pandemie in dieser Saison auf den traditionellen Rennstrecken in Puebla und Valencia … nicht, weil es zur Strategie gehört, sondern es war eben möglich dort zu fahren. Besonders das Rennen in Valencia, wenngleich ich diese Erfahrung nicht wiederhole möchte, hat uns viele Lehren über die Formel E und den Kern aufgezeigt. Wenn wir auf allen Formel 1-Kursen fahren würden, wären wir nur eine elektrische, langsamere Version davon. Aber wir sind in Städten und haben mit Strecken wie Monaco und London mit Indoor-Outdoor eine enorme Abwechslung im Rennkalender. So heben wir uns von der Formel 1 und anderen Rennserien ab.
Welche Märkte und Zielgruppen haben Sie insbesondere dabei im Blick?
Jamie Reigle: Wir betrachten jeden Markt aus verschiedenen Perspektiven. Gibt es eine Motorsport-Historie? Das ist wichtig, diese Menschen müssen mit Motorsport etwas anfangen können. Gibt es allgemeiner gefasst die Tendenz, dass Menschen überhaupt zu Live-Events gehen? Ist es ein wichtiger Markt für die teilnehmenden Hersteller und unsere Sponsoren? Aus diesen Perspektiven ergibt sich eine Matrix. Wenn ich den Kalender für nächste Saison anschaue, so finde ich Vancouver, New York und Mexiko. In Nordamerika haben wir Westküste, Ostküste und eine spanisch sprechende Region. Das ist ein schöner Mix. Leider sind wir nicht in Südamerika. Wir waren ja zuvor in Santiago de Chile, aber dort ist es derzeit mit Pandemie und auch politisch schwierig. Brasilien ist sicher langfristig prädestiniert als Ort, weil es dort eine Motorsporttradition gibt und sehr viele gute Rennfahrer dort herkommen. In Asien sind wir nächstes Jahr in Südkorea, was großartig ist. Es ist ein neuer Markt für uns. Seoul fühlt sich sehr futuristisch an und ist eine sehr moderne Stadt. Leider sind wir nicht in Japan, da sollten wir aber auch hin, ebenso wie auch nach China.
Was halten Sie von Macau? Wohl ein sehr legendärer Stadtkurs …
Jamie Reigle: Ich war noch nie beim Grand Prix von Macau, aber ich höre, wie die Leute das abfeiern. Es ist natürlich ein Kult-Rennen. Vielleicht ist dieser Kurs aber nicht unbedingt für unsere Autos geeignet … zumindest wird mir gegenüber das so eingeschätzt. Man soll aber niemals nie sagen. Macau ist das Las Vegas von Asien. Aber ist es wirklich auch ein Zielmarkt für unsere Hersteller sowie Sponsoren?
Blicken wir nach Deutschland: Welche Rolle nimmt die Formel E ein?
Jamie Reigle: Die Formel E soll ein Showcase für die heutige Elektromobilität sein. Deutschland ist ein enorm wichtiger Markt für uns: Mehr als 80 Millionen Einwohner, Europas größter Wirtschaftsmarkt. Selbst wenn es hier keine Autohersteller gäbe, wäre es ein wichtiger Markt. Es gibt auch eine längere Motorsporttradition, etwa mit Michael Schumacher oder der DTM. Aus technologischer Sicht können wir hier für die Hersteller eine Rolle spielen was Forschung und Entwicklung angeht. Anderseits sind wir auch ein Marketingfaktor. Die Mobilität entwickelt sich sehr schnell. Für die Formel E heißt dies: Wie bleiben wir relevant und wie helfen wir den Herstellern?
Die kommende Saison ist das letzte Jahr mit den Gen2-Boliden …
Jamie Reigle: Richtig, jeder spricht schon von Gen3, aber natürlich haben wir noch ein wichtiges Gen2-Jahr vor uns. Die letzte mit den Gen2-Boliden, betrachte ich als Sprungbett. Wir haben neue Städte im Kalender … das ist das wichtigste. Und wir bekommen das Momentum zurück. Aus rein sportlicher Sicht: Mit dem momentanen Qualifikationsmodus ist klar, dass er ein Nachteil für Top-Fahrer ist. Wie beheben wir das, ohne zeitgleich die weiteren Fahrer um ihre Chance auf eine gute Position zu bringen? Wir schauen uns auch das Energiemanagement an, um so etwas wie in Valencia zu vermeiden. Ich persönlich freue mich sehr auf die nächste Saison.
Bringt Gen3 dann die Pflicht-Boxenstopps zurück in die Formel E?
Jamie Reigle: Nun zunächst sind die Boliden in Gen3 leichter und leistungsstärker. Sie werden bedeutend schneller sein. Das Design ist auch besonders prägnant. Das alleine ist spannend. Dann kommt Schnellladen hinzu und es ist mehr Rekuperation möglich. Schnellladen kann Boxenstopp bedeuten, aber nicht Pflichtboxenstopp. Wir haben mehrere Optionen dann an der Hand, und wie wir damit umgehen können.
Wie sehen die Pläne für Rahmenserien denn generell aus?
Jamie Reigle: Der Fokus liegt eher auf dem Produktkern, der Formel E selbst. Zu viele Dinge auf einmal sollte man nicht machen, sonst verliert man den Fokus. Für Rahmenserien haben wir dennoch viele Optionen. Es kann ein Herstellercup sein, wie etwa bei der Jaguar I Pace Trophy. Es könnte ein Format mit vielen Herstellern sein oder aber rein kommerziell mit Testfahrten von E-Flotten von unseren Partnern. Man könnte jungen Fahrern eine Bühne geben, mit den Gen2-Wagen. Eine Serie für Frauen wäre eine Möglichkeit, ähnlich wie bei der W-Series. Für nächste Saison gibt es wie gesagt keine Pläne. Für das Jahr danach, haben wir einige Ideen! (ampnet/SW)
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