Dr. Verena May: „Es macht auf das Thema Rückenmarksverletzung aufmerksam“.
Pro Jahr kommen bis zu 200 Projekte auf den Schreibtisch von Dr. Verena May, die alle das alleinige Ziel verfolgen, Rückenmarksverletzungen in der Zukunft zu heilen. Doch welche davon werden von „Wings for Life“ am Ende unterstützt? Seit fast zehn Jahren ist Dr. Verena May als Koordinatorin der Stiftung genau dafür zuständig. Ein Gespräch über vielversprechende Studien, Diplomatie und natürlich den World Run.
Frau Dr. May, Sie kommen ursprünglich aus der Forschung. Koordination der Stiftung klingt nicht unbedingt nach aktiver Forschung.
Dr. Verena May: Das ist richtig. Ich bin nicht mehr in der Forschung tätig, sondern bilde mit der Koordinationsstelle von „Wings for Life“ die Schnittstelle zwischen allen Forschern, Stiftung und allen Beratungsgremien. Hier werden alle Ideen und auch alle Informationen zu Forschungsprojekten gebündelt und alle beteiligten Personen auf dem Laufenden gehalten. Besonders wichtig ist auch die Kommunikation nach außen. Wir erklären, welche Projekte gefördert werden.
Das klingt nach einem Job, bei dem Diplomatie gefragt ist.
Dr. Verena May: Wir machen sehr viel Aufklärungsarbeit. Wir müssen einen Dialog zwischen den verschiedenen Parteien herstellen und gut zwischen ihnen vermitteln.
Was ist für Sie das Interessanteste an Ihrer Arbeit?
Dr. Verena May: Die Tatsache, dass die Reparaturen im zentralen Nervensystem eines der komplexesten Probleme der Wissenschaft sind, ist faszinierend. Mich treibt das Bedürfnis an, dies für Patienten zu erhellen.
Wie beurteilen Sie nun den aktuellen Stand der Forschung?
Dr. Verena May: Wir haben in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Wenn man bedenkt, dass das Thema Rückenmarksverletzungen um 2.000 v. Chr. Bereits erstmals beschrieben wurde und es bis 1945 leider überhaupt keine Fortschritte gab, ist es beeindruckend zu sehen, was in relativ kurzer Zeit alles erreicht worden ist. Erst nach den Weltkriegen hat sich diese Versorgung recht langsam verbessert.
Hat dies auch mit den betroffenen Soldaten zu tun?
Dr. Verena May: Ganz genau. Und mit der Verbesserung der Versorgung stieg auch die Überlebensrate der Patienten. Leider dauerte es dann noch einige Jahre, bis sich ein grundlegendes Dogma änderte: Erst Anfang der 1980er Jahre erkannte man, dass die Regeneration von Nervenfasern im Zentralnervensystem entgegen der bisherigen Annahme sehr wohl beeinflussbar ist und dass sie unter geeigneten Umweltbedingungen sogar nachwachsen können.
Und was hat sich konkret in den letzten zehn Jahren getan?
Dr. Verena May: Wir unterstützen zahlreiche Projekte in der Grundlagenforschung, im präklinischen und im klinischen Bereich. Allerdings haben sich mit den Jahren viel mehr klinische Studien auf dieses Thema konzentriert. Und das ist auch gut so.
Welche Risiken gibt es für Patienten an Studien?
Dr. Verena May: Das hängt natürlich von den einzelnen klinischen Studien ab. Man sollte sich aber auf jeden Fall im Vorfeld gut informieren. Bei seriösen klinischen Studien geht das Studienzentrum oder der Studienleiter mit dem Patienten auch ein ausführliches Informationsblatt durch, bespricht mögliche Risiken. Der Patient kann sich jederzeit gegen eine Teilnahme entscheiden.
Wie könnte eine Lösung zur Heilung denn aussehen?
Dr. Verena May: Das ist eine sehr schwere Frage, denn jede Verletzung ist anders, und der Fokus der Heilung liegt immer wo anders. Eine funktionierende Blase und ein funktionierender Darm sind zum Beispiel für Patienten, die gar nicht mehr gehen können, enorm wichtig. Im Gegensatz dazu macht es aber für Menschen mit einer schweren Rückenmarksverletzung einen immensen Unterschied, wenn sie einfach nur den Daumen bewegen können und wieder die Fähigkeit zum Greifen erlangen.
Gibt es denn schon vielversprechende Projekte?
Dr. Verena May: Wir fördern derzeit 74 vielversprechende Forschungsprojekte mit unterschiedlichen Ansätzen. Zu sagen, dass eines dieser Projekte besser ist als das andere, wäre nicht richtig. Aber wenn ein Projekt eine klinische Testphase erreicht hat, sind viele Hürden bereits überwunden und Versprechen eingehalten worden. Ein gutes Beispiel ist die neue klinische DISCUS-Studie, die sich mit akut verletzten Patienten befasst. Ziel der Studie ist es, dass die Forscher versuchen, die Schäden, die unmittelbar auftreten, weiter zu minimieren.
Mit wie vielen Bewerbungen pro Jahr rechnen Sie so?
Dr. Verena May: „Wings for Life“ unterstützt die Forschung wirklich weltweit, daher akzeptieren wir Bewerbungen von Forschungsteams aus der ganzen Welt. Für das klinische Programm können Forscher jederzeit Projekte einreichen, da wir diese so schnell wie möglich vorantreiben wollen. Wir erhalten etwa fünf Bewerbungen pro Jahr für dieses Programm. Bei der regulären Aufforderung zur Einreichung von Anträgen für Grundlagenforschung und präklinische Projekte erhalten wir über 150 Projektanträge pro Jahr. Im Durchschnitt erhalten etwa 15 Projekte eine Förderung.
Was ist die Idee des Wings for Life World Run?
Dr. Verena May: Der Wings for Life World Run ist unser wichtigstes Fundraising-Event. Er hilft uns, die notwendigen Mittel für die Forschung aufzubringen und macht weltweit auf das Themenfeld Rückenmarksverletzung und die Menschen, die damit leben müssen, aufmerksam. Aber was die Veranstaltung wirklich großartig macht, ist die Tatsache, dass ausnahmslos jeder mitmachen kann … es ist einfach eine tolle Sache! Ich finde es beeindruckend, was „Wings for Life“ alles möglich gemacht hat. Dass man sagen kann, dass 100 Prozent der Spenden in die Forschung fließen, ist einzigartig, das gibt uns einen richtigen Schub und sorgt dafür, dass wir eine der besten Kulissen haben. Diesmal am 7. Mai … (Red Bull/TX)
Foto: Philipp Horak / The Red Bulletin