Ulf Engel: „Der Buchtitel ist zugleich Titel eines Kapitels“.
„Gegen die Laufrichtung“ ist ein kurzweiliges und zugleich faszinierend anderes Buch über Fußballgeschichten. Autor Ulf Engel beleuchtet nämlich nicht die teilweise viel zu oft diskutierten Spiele im Fußball, sondern befasst sich mit anderen Duellen und Konstellationen. Auf Vereinsebene als auch bei der deutschen Nationalmannschaft. Im Interview spricht Ulf Egel über sein Buch und seine Geschichte des Fußballs.
Herr Engel, bevor wir uns über Fußball und über Ihr neues Buch unterhalten, Hand aufs Herz: Wie oft werden Sie bei Anfragen mit Ulf Engel, dem Professor für Politikwissenschaft und ebenfalls Autor verwechselt?
Ulf Engel: Noch gar nicht. Allerdings weiß ich von dem Namensvetter schon lange, sicher über zehn Jahre. Jemand wies mich einmal darauf hin. Sein Porträtfoto sehe mir ähnlich, das muss ich ausdrücklich dementieren! Die Themen seiner Bücher und Vorträge, vor allem zur Entwicklung Südafrikas, finde ich hoch interessant
Kommen wir zu „Gegen die Laufrichtung“. Als ich den Titel erstmals gehört habe, habe ich nicht an Fußball gedacht. Erst als ich das Cover sah. Absicht?
Ulf Engel: Kommt drauf an, was Sie unter „Absicht“ verstehen. Ein Titel verfolgt ja immer eine Absicht. Vielleicht spielen Sie darauf an, dass auf dem Titelbild das Wort „Laufrichtung“ spiegelverkehrt gedruckt ist. Das soll natürlich ein Blickfang sein. Der Buchtitel ist zugleich Titel eines Kapitels. Dort wird ein Tor geschildert, bei dem der Ball gegen die Laufrichtung des Torwarts fliegt. Falls Sie allerdings meinen, der Titel sollte zunächst einmal vom Fußball ablenken, dann nein, das ist nicht die Absicht. Der Untertitel „Fußballgeschichten“ gehört ja ebenfalls zum Buch.
In Ihrem Buch beleuchten Sie unterschiedliche Geschichten aus dem Fußball. Woher kommt Ihre Liebe zum Spiel mit dem runden Leder?
Ulf Engel: Ich denke, das ist bei mir so passiert wie bei den meisten Fußballfans. Als Kinder traten wir Nachmittag für Nachmittag stundenlang auf einen wehrlosen Ball ein. Dazu kam ein Schlüsselerlebnis, nämlich eine Rundfunkübertragung eines 4:0-Sieges des VfB Stuttgart über Eintracht Frankfurt. Zu Schulzeiten haben wir im Sportunterricht gefühlt fast nur gekickt, auch danach gab es noch Phasen, in denen ich vom Ball nicht lassen konnte.
Im Lauf der Jahrzehnte sammeln sich natürlich Erinnerungen an, von denen man auch nicht mehr loskommt. Fußballgeschichten halt. Die machen etwas mit einem, davon kann jeder Fußballfan ein Lied singen.
Auf Vereinsebene sind Sie also geprägt vom VfB Stuttgart. Doch wenn wir uns eine Geschichte aus Ihrem Buch anschauen, sind Sie heute dem SC Freiburg zugetan. Jetzt bin ich kein Experte für das Innenverhältnis zwischen dem VfB Stuttgart und dem SC Freiburg, trotzdem wirkt der Schritt etwas merkwürdig?
Ulf Engel: So was macht man auch nicht … aber ich tat es trotzdem. Und zwar am 23. April 1994, als der SC Freiburg, quasi als Absteiger feststehend, am 32. Spieltag der Bundesligasaison in Stuttgart antrat und 4:0 gewann. Es fällt mir original erst jetzt, in diesem Interview auf, dass es jeweils 4:0-Ergebnisse waren, die mich an einen Verein gebunden haben. Hintergrund war, dass der VfB als Verein schon länger dabei war, Dinge zu tun, die ich nicht gut fand und mit denen ich mich nicht mehr identifizieren konnte, kurz zusammengefasst: Trainer zu feuern und Stars einzukaufen. Im Verlauf der damaligen Saison hatte ich den Weg der Freiburger sehr wohlwollend verfolgt. Am Abend des 31. Spieltags hörte ich spät von der knappen Heimniederlage des SC gegen Dynamo Dresden. Damit war Freiburg so gut wie abgestiegen. Ich war unendlich traurig und dachte, OK, aber einmal schau ich mir die Jungs noch live an. Und das war zufällig das Spiel in Stuttgart. Als ich dort ins Stadion kam, direkt neben den Gästefans, habe ich mich schon vor dem Anpfiff in diese Fans verliebt. Im Buch beschreibe ich das ausführlicher. Dazu kam ein wirklich meisterliches Spiel der Freiburger, völlig unerwartet; und ganz am Ende haben sie es ja dann doch noch geschafft und sind dann nicht abgestiegen. Mich beeindruckte damals auch, dass sie es die ganze Saison über spielerisch angingen, ganz gegen die vorherrschende Meinung, als Aufsteiger und im Abstiegskampf habe man gefälligst den Rasen umzupflügen und sonst nichts.
Was genau fasziniert Sie an dem Verein SC Freiburg?
Ulf Engel: Die Konstanz und die Prinzipienfestigkeit. Christian Streich ist seit dem Amtsantritt von Volker Finke 1991 der vierte Cheftrainer. Inklusive Volker Finke. Sie haben sich von den so genannten „Mechanismen der Branche“ losgesagt, haben dennoch Erfolg, im Sinne von; erfüllen die eigenen Ansprüche, übertreffen sie sogar bisweilen. Sie beugen sich keinem Druck von außen und müssen den inzwischen auch gar nicht mehr befürchten, denn man weiß inzwischen; hat eh keinen Zweck, denen von außen was reinzuschreiben. Darin sind sie die Nummer eins in der Liga
Sie sind 1960 in Stuttgart geboren. Haben also alle Höhen und Tiefen des VfB Stuttgart in der Bundesliga und auch in der 2. Liga aktiv erlebt. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation auf dem grünen Rasen, aber auch in der Führung?
Ulf Engel: Was sich auf dem Rasen abspielt, ist sensationell. Das ist der beste Fußball, den die seit mindestens zehn Jahren spielen. Aggressiv, vertikal, ohne Respekt. Sehr gut gefällt mir auch Pellegrino Matarazzo, der Trainer, ein kluger Kopf, der aber nicht nur die Köpfe trainiert. Ein absoluter Experte mit einem sehr breiten Hintergrund, zugleich mit offensichtlich hohen Kompetenzen in Sachen Menschenführung. Das könnte wieder eine Ära werden. Wäre da nicht das immer schwelende und zu oft ausbrechende interne Chaos der Funktionäre. Da muss man leider befürchten, dass immer wieder Störungen kommen. Das tut immer noch weh.
Wo sehen Sie Freiburg und Stuttgart in naher Zukunft?
Ulf Engel: Immer in der Bundesliga, meistens zwischen Platz acht und zwölf. In einem sehr guten Jahr auch mal Platz sechs und internationale Spiele, aber man muss immer bereit sein für die Saison, in der man eben auch mal nur mit Platz 15 klarkommen muss. Damit wird Freiburg nie ein Problem haben, jedoch beim VfB vergessen sie leider gerne schnell, wo man eigentlich gerade hergekommen ist. Das gilt nicht nur für die Führungsebene, sondern auch für Teile des Publikums. Das ist nichts Neues, sondern im Grunde seit Jahrzehnten so. Es gehört sozusagen zur DNA des Vereins, und das ist es, was einem Sorgen macht.
Wenn wir schon beim aktuellen Fußball sind. Wie sehen Sie den Fußball in der Pandemie? Machen die Spiele am Fernseher, egal welcher Klub, noch Spaß?
Ulf Engel: Am Anfang schon noch, da hat der Hunger nach der Spielpause mit reingespielt, und ich habe mir sogar die entsprechenden Abos besorgt, mit dem festen Vorsatz, sie wieder zu kündigen, wenn die Zuschauer wieder kommen dürfen und man wieder im Pub schauen kann. Bei dem berühmten 8:2 der Bayern gegen Barça konnte ich die Umstände gut ausblenden, weil Bayern wirklich herausragend und wegweisend gespielt hat.
Aber inzwischen, um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein, nicht mehr wirklich. Auch wenn man am Bildschirm schaut, gehören die Zuschauer einfach dazu. Auch dazu findet sich nebenbei was im Buch, ich denke nämlich grundsätzlich, dass die Zuschauer Mitwirkende sind. Also, meine Abos laufen noch, aber ich lasse meinen Rechner oft aus.
Genug aus dem Hier und Jetzt. Im Buch „Gegen die Laufrichtung“ schneiden Sie auch die Weltmeisterschaft 2014 an. Doch Sie nehmen sich nicht wie so viele andere Experten das legendäre Halbfinale gegen Brasilien oder aber das glücklich gewonnene Finale gegen Argentinien vor. Sie picken sich das Spiel gegen Algerien raus. Warum ausgerechnet das Spiel?
Ulf Engel: Weil es für mich das Schlüsselspiel zum Titelgewinn war. Natürlich kann und sollte man das auch kontrovers diskutieren! Ich sehe es halt so. Die deutsche Mannschaft war mit einer in gewisser Weise unerwarteten Situation konfrontiert, einem Gegner, der ihr auf Augenhöhe die Stirn bot. Die Mannschaft sowie das Trainerteam sahen sich nach dem Spiel Kritik ausgesetzt, die teilweise hämische Züge trug, eine genaue Betrachtung zeigt, dass sie die gestellte Herausforderung am Ende meisterte, gezeichnet, aber auch gestärkt. Das war eine Erfahrung, die später im Finale Gold wert war, als die Argentinier ihr bestes Spiel bei der WM zeigten. Es war hart und teilweise glücklich, wie Sie in Ihrer Frage andeuten, aber dennoch verdient. Die beiden Spiele haben ganz ähnliche Verläufe, und es hat der deutschen Mannschaft wahrscheinlich geholfen, das im Hinterkopf zu haben, auch wenn es schwierig ist und der Gegner uns alles abverlangt, am Ende packen wir das, weil wir es schon mal gepackt haben.
Ein zweiter Grund, mich auf dieses Spiel zu konzentrieren, war die Frage nach der Rolle von Philipp Lahm. Es war dieses Spiel, in dessen Verlauf er von der Sechser- auf die rechte Außenverteidigerposition zurückbeordert wurde. Die vorherrschende Meinung ist ja, dass das schon lange vorher hätte passieren sollen und dass Löw es während dieses Spiels „endlich“ eingesehen hätte, als ihm nach Shkodran Mustafis Verletzung die Alternativen ausgingen. Und auch, dass nach der Umstellung adhoc alles besser gewesen sei. Ich kann, glaube ich, ganz gut zeigen, dass Löw gute Gründe hatte, Lahm ursprünglich auf die Sechs zu stellen, und vor allem, dass die deutsche Mannschaft in den ersten 20 Minuten nach der Umstellung ganz im Gegensatz zu dem, woran man sich zu erinnern glaubt, auf einem ganz dünnen Seil balancierte. Da geht es auch um konkret Taktisches.
Am Ende sehe ich ein Riesenspiel von beiden Mannschaften und hoffe, dass das rüberkommt.
Auch wenn wir heute nur über zwei Geschichten aus Ihrem Buch gesprochen haben, neben den vielen anderen faszinierenden Geschichten in „Gegen die Laufrichtung“ fehlen ein paar andere große und kleine Geschichten natürlich auch. Wird es also eine Fortsetzung geben? Oder haben Sie den Lockdown für andere Bücher genutzt? Man muss ja nicht nur das Negative darin betrachten!
Ulf Engel: Mein Anliegen war und ist in erster Linie, weniger beachtete Aspekte hervorzuheben. Über Spiele zu schreiben, über die sich schon viele andere den Kopf zerbrochen haben, hätte wenig Sinn, glaube ich.
An eine Fortsetzung denke ich im Moment eigentlich nicht. Sollte ich ein zweites Buch schreiben, das um das Thema Fußball kreist, würde ich einen anderen Ansatz wählen. Nicht, weil ich den für dieses Buch gewählten schlecht finde, im Gegenteil, ich musste das einfach so machen! Aber man kann nicht einfach endlos Spiele in Geschichten verpacken, das würde sich irgendwann erschöpfen.
Ich sehe hier aber noch das mögliche Missverständnis, dass das Buch komplett im Lockdown entstanden sei. Das ist es bei weitem nicht, viele Teile, teils ganze Texte waren schon irgendwo abgespeichert, ohne dass ich im Ernst an ein Buch gedacht hätte. Das Kapitel zum SC Freiburg beispielsweise habe ich in nicht geringen Teilen schon vor über 20 Jahren geschrieben, Notizen zum Spiel des VfB gegen Offenbach vom Herbst 1976 gab es noch länger. Und natürlich gab es dann Überarbeitungen. Je nach Perspektive fiel die Entscheidung, ernsthaft so ein Buch anzugehen, „erst“ oder „schon“ vor knapp drei Jahren. Dafür reicht ein Lockdown also nicht! Vor allem, weil ich ja einem Beruf nachgehe und umfassende familiäre Pflichten habe. Nein, das Buch ist komplett in meiner Freizeit entstanden, davon gab es auch während des Lockdowns nicht viel.
Was ich am Ende unbedingt loswerden will: Das Buch zu schreiben, auch an Vielem öfters zu schrauben und all das, das hat mir wahnsinnig viel Spaß gemacht, auch wenn am Anfang und noch mehr am Ende auch Aspekte zum Tragen kommen, die kritisch zu sehen sind, sodass ich in gewisser Weise offen ende. Aber das ist kein Hinweis auf eine mögliche Fortsetzung. Eher geht es mir darum, eine Richtung anzudeuten, die der Fußball und der Sport allgemein einschlagen könnten, um sich aus dem Schlamassel zu befreien, in dem sie sich zurzeit, völlig unabhängig von Corona, eben auch befinden. Aber das werden bestimmte Akteure entscheiden und kein Autor eines Buches. (TX)