Timo Kastening: „Ich freue mich immer darüber, spielen zu dürfen“.
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft hat sich souverän für Olympia in Tokio qualifiziert. Für Nationalspieler Timo Kastening gibt es aber keine Atempause, denn der Alltag in der Bundesliga geht schon wieder weiter. Zwischen dem Qualifikations-Turnier in Berlin und dem Training bei seinem Verein MT Melsungen nahm sich der Handballer des Jahres 2019 Zeit für ein exklusives Interview mit „sportflash.online“.
Die Qualifikation für Olympia ist eingetütet! Wie habt Ihr denn zusammen noch den Abend verbracht? Habt Ihr noch ein wenig gefeiert?
Timo Kastening: Nach dem letzten Spiel gab es in der Kabine nur zwei, drei Bierchen … aufgrund des Ligabetriebs müssen wir am Mittwoch schon wieder mit dem MT Melsungen in Nordhorn spielen. Richtig feiern konnten wir nicht. Wir haben uns extrem gefreut und es fiel uns eine enorme Last ab. Denn als Handball-Nation sollte Deutschland auf jeden Fall bei Olympia dabei sein. Es war eine recht große Erleichterung zu spüren.
Wenn es am Mittwoch schon wieder in der Liga weitergeht, dann kannst Du diesen Erfolg gar nicht richtig genießen … kann man denn schon wieder 100 Prozent geben?
Timo Kastening: Bei mir geht es noch. Ich spiele auf der Außenposition und dazu sind wir mit Melsungen international nicht mehr dabei. Ich freue mich immer darüber, spielen zu dürfen. Andererseits hat man gar keine Chance durch zu schnaufen.
Wie waren die Tage vor den Spielen. Paul Drux fiel noch kurzfristig aus. Alle erwarteten die Qualifikation für Olympia. Hat man die Anspannung gespürt? Hat es geprickelt?
Timo Kastening: Absolut! Ich habe schon gefühlt, dass der Druck deutlich größer war als zum Beispiel bei der WM. Wir wurden damals von den Medien als B-Team verschrien und hatten gar keinen Druck. Jetzt sind wir mit voller Kapelle aufgelaufen und mussten Olympia realisieren. Da hat man schon gemerkt, dass der Fokus auf Olympia lag und wir alle große Lust hatten, uns dafür zu qualifizieren. Deswegen haben wir alle an einem Strang gezogen. Dafür, dass wir vorher nicht in den Himmel gelobt wurden, kann man nach dem Wochenende ein zufriedenes Fazit ziehen.
Wie kommst Du persönlich mit dem Druck zurecht?
Timo Kastening: Als Sportler sollte man in gewissen Situationen immer Druck verspüren, denn dieser Druck spornt zu Höchstleistungen an. Sonst würde man irgendwann abflachen. Ja, ich habe schon den Druck gespürt.
Das erste Spiel gegen den Vize-Weltmeister endete glücklich unentschieden. In der letzten Sekunde gab es den Ausgleich. Gibt dann so ein positives Ende zusätzlich Prozente für das nächste Spiel?
Timo Kastening: Gerade weil wir dieses Unentschieden gegen Schweden noch erkämpft haben, hat das uns noch zusätzlich Auftrieb gegeben für das Spiel gegen Slowenien. Das Schweden-Spiel war wieder so ein Match, an dem die Tagesform entscheidet. Man kann es gewinnen, man kann es verlieren, und am Ende ist es unentschieden ausgegangen. Beim Handball lebt man von diesen Kleinigkeiten. Davon kann man dann positive Energie herausziehen. Bei der WM haben wir gegen Ungarn und Spanien knapp verloren, diesmal haben wir eben noch unentschieden gespielt. Diese Spiele sind auf einem unglaublich ausgeglichenen Niveau.
Viele sagten, dass das Slowenien-Spiel ein nahezu perfektes Spiel war. Hast Du das auch so gesehen?
Timo Kastening: Ja, absolut! Man darf natürlich auch nicht vergessen, dass den Slowenen zwei ganz wichtige Spieler gefehlt haben. Mit den beiden wäre es wohl ein anderes Spiel geworden. Aber trotzdem hatten wir sie 60 Minuten im Griff. Wir hatten sie am Anfang gebrochen und sie hatten sich dann mit sich selbst und den Schiedsrichtern beschäftigt. Das war ein gutes Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Außerdem hatten wir zu keinem Zeitpunkt locker gelassen.
Nach dem Sieg gegen die Slowenen musstet Ihr dann gegen den vermeintlich leichtesten Gegner, gegen Algerien spielen. Wie habt Ihr es geschafft, dass man diesen Gegner nicht auf die leichter Schulter nahm?
Timo Kastening: Es war in den Köpfen drin, dass wir Algerien schlagen mussten, um uns für Olympia zu qualifizieren. Wer darauf nicht fokussiert ist, der hat in der Nationalmannschaft nichts zu suchen. Wir sind dieses Spiel mit aller Ernsthaftigkeit angegangen und haben die Algerier deswegen auch über 60 Minuten kontrolliert.
In den letzten Jahren gab es bei entscheidenden Spielen oft Enttäuschungen. Was war diesmal anders?
Timo Kastening: Wir waren von Anfang an da! Wir hatten keine Ausfälle, obwohl Paul Drux uns vor dem Turnier noch weggefallen ist. Wir hatten im Angriff und in der Abwehr das Beste dabei, was ging. Die Kieler gaben uns wieder Sicherheit in der Abwehr. Weil alle dabei waren und mit Alfred Gislasson jemand auf der Bank saß, der die gewisse Ruhe ausstrahlte. So konnten wir ans Leistungsoptimum gehen.
Was macht Alfred Gislasson aus? Was ist er für ein Bundestrainer?
Timo Kastening: Er hat schon alles erlebt, er hat schon alles gewonnen. Er weiß sein Temperament perfekt einzusetzen. Gerade bei der Nationalmannschaft mit den Spielern, die auch Champions League spielen, muss man in dieser Woche nicht an allem arbeiten, sondern man muss sie auf den Punkt fokussieren. Alfred tut uns extrem gut. Er ist der perfekte Trainer, der uns in kurzer Zeit zu Höchstleistungen bringen kann.
Woran denkst Du, wenn Du das Wort Olympia hörst?
Timo Kastening: An das olympische Dorf … ich war noch nie bei Olympia, aber egal, mit welchem Spieler man spricht, der schon mal dabei war, er erzählt über die schöne Harmonie, die dort herrscht. Tolle Sportler, tolle Sportarten und ein geiles Turnier mit den besten Mannschaften der Welt. Ich hoffe, dass ich dabei sein darf!
Bob Hanning möchte gerne Gold … Ihr wollt ihm doch sicher diesen Wunsch erfüllen, oder?
Timo Kastening: Es gibt viele Menschen, die Wünsche haben, aber am Ende müssen wir spielen und die Spiele gewinnen … wir wollen jedes Spiel gewinnen und gucken, wo es hinführt. Mit unserer Mannschaft brauchen wir uns vor keiner Nation verstecken. Erstmal war es wichtig, dass wir uns qualifizieren, bevor wir über Gold sprechen. Wir dürfen auch die anderen Mannschaften nicht vergessen. Vielleicht spielen Teams viel lieber gegen Deutschland als gegen Norwegen oder Dänemark. Dass wir nicht Favorit Nummer eins sind, ist jedem klar. Wir wissen aber, dass wir an einem guten Tag jeden schlagen können. Mit einer gewissen Geilheit und einer gewissen Demut sollten wir auch ein gutes Turnier spielen können. Wenn es nach mir geht, ich will unbedingt dabei sein und ich werde alles dafür geben. (OD)