Sebastian Bär: „Ein strukturell beeinträchtigter Fuß braucht Zeit“.
Die Laufschuhindustrie steht vor dem umfassendsten Paradigmenwechsel in ihrer Geschichte. Konzentrierte sich die biomechanische Forschung in den vergangenen gut 40 Jahren auf den Rückfuß zur Verletzungsminimierung, bei „Run Fearless“ von NIKE geht es primär um den vorderen Fuß, also die Zehen. Für Sebastian Bär kein neuer Ansatz und der Geschäftsführer von JOE NIMBLE erklärt im Interview warum.
Herr Bär, der Frühling macht sich langsam bemerkbar und damit beginnt auch wieder die Laufsaison. Durch die Pandemie mit geschlossenen Fitnessstudios werden wohl noch mehr Jogger als sonst schon unterwegs sein. Doch wenn man sich das neu vorgestellte Konzept „Run Fearless“ von NIKE anschaut, sollten wir alle lieber unsere alten Laufschuhe entsorgen. Was verbirgt sich genau hinter diesem neuen Ansatz des Laufschuhs?
Sebastian Bär: NIKE hat in einer angekündigten, bislang jedoch unveröffentlichten Studie herausgefunden, dass Motion-Control und Pronationsstützen im Schuh das Verletzungsrisiko nicht minimieren, so wie es jahrzehntelang vorausgesetzt wurde. Der neue NIKE-Schuh legt daher den Fokus auf die Stabilität im Vorfuß anstatt wie üblich auf genannte Kontrollmechanismen im Rückfuß. Laut eigener Angaben in der Studie wurde das Verletzungsrisiko bei Läufern dadurch um 52 Prozent abgesenkt. Da die Studie noch nicht publiziert ist, müssen wir jedoch noch abwarten, was das tatsächlich in absoluten Zahlen bedeutet, sprich: Wie viele Studienteilnehmer gab es, 10 oder 100 und über welchen Zeitraum wurde getestet?
Es wurde Zeit, dass die Laufschuhindustrie ihre alten Gewohnheiten über Bord wirft. Daher ist der Ansatz gut … geht aber noch nicht weit genug, um wirklich etwas zu verbessern.
Das heißt aber auch, seit rund 40 Jahren ging die Schuhentwicklung in diesem Bereich in die falsche Richtung! Trotz aller Studien und Analysen der großen Hersteller, wie konnte es dazu kommen?
Sebastian Bär: In der Laufschuh- und Schuhindustrie wird seit Jahrhundert mit vorn spitz zulaufenden, symmetrischen Leisten gearbeitet. Das hat unter anderem den Hintergrund, dass früher sowohl für den rechten als auch für den linken Fuß der gleiche Leisten verwendet wurde. Natürlich ist das heute nicht mehr so, aber die Tatsache, dass die Schuhleisten heute immer noch symmetrisch spitz modelliert werden, wurde nie in Frage gestellt. Die gesamte Industrie weltweit basiert darauf und hat sich darauf ausgerichtet.
Durch diese Leistenform wird der natürlich asymmetrische Fuß in seiner gesamten Funktionalität aber stark beeinträchtigt: Der große Zeh kann seine zentrale Funktion nicht mehr ausüben. Als stärkster Muskel im Fuß verankert und stabilisiert er. Wenn er jedoch keinen Platz hat und eingequetscht ist, funktioniert das nicht und der gesamte Körper gerät dadurch ins Ungleichgewicht. Um diese Instabilität zu kompensieren, werden daher bereits seit Jahrzehnten Pronationsstützen sowie Kontrollmechanismen in die Schuhe gebaut oder Orthopäden sowie Podologen verschreiben Einlagen zur Kompensation. Man hat sich mit der Symptomlinderung abgefunden, anstatt dieses Problem bei der Wurzel zu packen und nachhaltig auszuräumen
Mit Ihrer Marke JOE NIMBLE verfolgen Sie diesen neuartigen Ansatz von NIKE schon bereits seit mehr als 10 Jahren. Woher wussten Sie, dass das Geheimnis des gesunden Laufens im Vorderfuß sitzt?
Sebastian Bär: In den frühen 80er Jahren haben meine Eltern Christian und Hilke Bär entgegen der Empfehlungen von Branchenspezialisten einen Schuh auf den Markt gebracht, der vorne breit war. Die Zehen sollten den notwendigen Platz bekommen, um ihre natürliche Funktion auszuüben. Das erschien mir bereits als Teenager ziemlich logisch. Markt und Verbraucher waren aber nur bedingt bereit dafür. Nicht nur wegen des neuen Ansatzes, sondern auch aus optischen Gründen.
Da ich mein Taschengeld auf Verbrauchermessen mit dem Verkauf der Schuhe aufgebessert habe, konnte ich jedoch über Jahre miterleben, wie Kunden oft sofort bei der Anprobe eine Verbesserung des Wohlbefindens erlebten und Fuß- und Gelenkschmerzen quasi wie weggeblasen waren. Daher haben wir unser Know-how aus Theorie und Praxis im Familienunternehmen über die Jahre perfektioniert
Wie baut sich solch ein Laufschuh auf?
Sebastian Bär: Laufschuhe sind im Aufbau unglaublich komplex und es bedarf einer Vielzahl von Komponenten und Arbeitsschritten bis zum fertigen Schuh. Zusammengefasst ist das Oberteil, der Schaft, meist aus einem luftdurchlässigen, atmungsaktiven Strick- oder Meshmaterial, das in den einen Bereichen fest und haltgebend und in den anderen Bereichen eher dehnfähig und flexibel ist. Die Zwischensohle ist aus einem leichten EVA Material, einem Kunststoff, der aus der Kombination von Ethylen und Vinylacetat besteht. Diese Zwischensohle sollte nicht zu dick und übermäßig dämpfend sein, da dies sonst den „overstride“ fördert, also das Aufsetzen des Fußes in der Laufbewegung vor dem Knie. Der „overstride“ ist eine der Ursachen für erhöhtes Verletzungsrisiko. Die Zwischensohle darf aber auch nicht zu dünn sein, so dass jedes Steinchen erspürt wird und natürlich stört. So etwas erleben unter anderem Träger von Barfußschuhen.
Gerade wenn der Fuß über Jahrzehnte strukturell negativ durch das Tragen herkömmlicher Schuhe beeinträchtigt wurde, kann der Fuß die Kräfte, die beim Laufen auf Fuß und Körper wirken, nicht mehr kompensieren. Beim Joggen lastet beispielsweise bei jedem einzelnen Schritt das Zwei- bis Dreifache des eigenen Körpergewichts auf dem Fuß. Zu dünne Sohlen wirken dann nachteilig, weil sie nicht genügend polstern und abfedern. Bei JOE NIMBLE haben wir die Laufsohle mit Michelin entwickelt, sie bietet ein Höchstmaß an Rutsch- und Abriebsfestigkeit und ist gleichzeitig sehr leicht. Das Fußbett im Innern des Schuhs sorgt für zusätzlichen Komfort. Anders als bei den Mitbewerbern haben wir dieses so gestaltet, dass es ausgetauscht werden kann und die Tragedauer des Schuhs durch ein neues Fußbett nochmals deutlich verlängert wird. Denn Nachhaltigkeit ist uns in jeder Hinsicht wichtig. Der Schuh bekommt seine Form (in der Branche nennen wir das die „Seele“) durch den Leisten: Der JOE NIMBLE Leisten basiert auf dem original Zehenfreiheitsleisten, den mein Vater vor 40 Jahren als Pionier in diesem Bereich entwickelt hat
Wie kann eine breitere Zehenbox für Stabilität sorgen?
Sebastian Bär: Durch ausreichend Platz in der Zehenbox kann sich die Großzehe im kritischen Abroll und Abstoßprozeß wieder geradestellen. So stabilisiert sie ganz natürlich den Fuß und somit den gesamten Körper. Pronationsstützen sowie Bewegungskontrolle sind dann völlig unnötig, da kein eingezwängter Schiefstand mehr kompensiert werden muss.
Wenn ich Sie also richtig verstehe, verhindert ein Fußbett mit mehr Raum für die Zehen nicht allein nur die Fehlstellung des Fußes. Es lindert auch etwaige Schmerzen in den Knien usw. Weshalb?
Sebastian Bär: Das ist richtig, allerdings muss ich natürlich hinzufügen, dass nichts über Nacht einfach so verschwindet. Ein strukturell beeinträchtigter Fuß braucht Zeit, um seine natürliche Struktur wieder zu entwickeln. Dann steht der Körper jedoch wieder auf einer stabilen Basis, und das ist ja die Aufgabe unserer Füße. Somit kann sich der Rest des Körpers entspannen, da die Kompensation einer instabilen Basis durch herkömmliche Laufschuhe und die damit einhergehende Überlastung von Gelenken, Sehnen und Muskeln, entfällt
Würden auch bestehende Probleme gemildert werden?
Sebastian Bär: Ja, je nachdem, wie gravierend diese sind. Wer es allerdings ernst meint mit seiner Gesundheit und sein Laufhobby ein Leben lang ausüben möchte, dem empfehlen wir konsequent an seiner Fußstruktur zu arbeiten. Wir haben ein Übungsprogramm hierfür zusammengestellt und auch eine Sandale entwickelt, die diesen Prozess unterstützen, die recoverToes.
Als ich vor einer halben Ewigkeit von normalen Turnschuhen auf Laufschuhe umgestiegen bin erhielt ich eine richtige Beratung mit Laufanalyse. Und in der Folge musste ich meinen Laufstil verlagern. Wenn ich jetzt z.B. auf ein JOE NIMBLE Modell umsteigen würde, müsste ich meinen Laufstil als „Supinierer“ erneut umstellen, dem Schuh also anpassen?
Sebastian Bär: Wir möchten so wenig wie möglich in die individuelle Biomechanik der Läufer eingreifen. Die Gefahr ist groß dabei ein Problem nicht zu lösen, sondern lediglich an eine andere Stelle im Körper zu verlagern. Der Körper und der Fuß hat im Bewegungsablauf eine ganz natürliche Pronations- sowie Supinationsphase. Diese sind nicht problematisch und hier sollte auch nicht eingegriffen werden. Die Probleme entstehen durch Überpronation und Übersupination, deren Ursache oft struktureller oder kompensatorischer Natur sind. Mit der Wiederherstellung der natürlichen Fußstruktur und der Vermeidung eines „overstride“ ist die Basis für gesundes Laufen geschaffen, ohne dass man in den individuellen Laufstil eingreifen muss.
Was darf man von JOE NIMBLE zur Saison 2021 erwarten?
Sebastian Bär: Aktuell kommt die Frühjahr/Sommer Kollektion auf den Markt, unsere ausgereifteste Laufschuhkollektion bisher, sowohl für die Straße als auch für den Trail, auch für Kinder. Die recoverToes ist die ideale Ergänzung für Läufer zu Hause oder im Büro: Sie bietet dem Fuß die Entlastung und Erholung, die er nach Laufeinheiten braucht und arbeitet gleichzeitig mit jedem einzelnen Schritt an der Wiederherstellung der natürlichen Fußstruktur. Und selbstverständlich haben wir für den Spätsommer, Herbst und Winter technologische Innovationen in der Pipeline, die dem Läufer und Outdoor-Enthusiasten noch mehr Vorteile und Entlastung bieten wird.
Abschließend noch Herr Bär: Wie sollte man seine Laufschuhe richtig pflegen und wann sollte man einen Schuh entsorgen?
Sebastian Bär: Ganz wichtig ist es, dem Material des Schuhs nach Gebrauch eine Erholung zu geben: Ein Schuhspanner aus Holz mit offenen Poren, sorgt dafür, dass die Feuchtigkeit aus dem Material genommen wird und schnell wieder ein natürliches Kima im Schuh entsteht. Außerdem bleibt der Schuh damit besser in Form. Von Waschmaschinenwäschen würde ich absehen, eine Handwäsche und anschließendes Lufttrocknen, nicht an der Heizung, sind für Schuh und Material viel besser. Eine Imprägnation kann verwendet werden, um einen gewissen Schutz vor Feuchtigkeit und Schmutz zu erlangen.
Die Industrie rät dazu, den Schuh nach 500 bis 800 Laufkilometern zu entsorgen. Dann sei die Sohle verbraucht und die Zeit für einen neuen Schuh gekommen. Ich weiche von dieser Philosophie etwas ab: Bei meinen eigenen Schuhen habe ich nach ca. 500 Kilometern das Fußbett ersetzt, was zu einer sofortigen Aufwertung des idealen Dämpfungsniveaus geführt hat. Wenn man ohne „overstride“ läuft, ist die Beeinträchtigung der Zwischensohle und der Abrieb der Laufsohle deutlich reduziert. Erst nach gut 1.400 Laufkilometern habe ich zum ersten Mal meinen nimbleToes Addict neu besohlen lassen. Diesen Service bieten wir allen Kunden an, was in der Laufschuhindustrie einzigartig ist. Ich denke, dass ich mit dem Schuh nun nochmals um die 1.000 Kilometer laufen kann. Das ist unser Beitrag zur mehr Nachhaltigkeit! (TX)
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