Matthias Becher: „Der Rahmen, den wir beeinflussen können, der stimmt“.
Der SV Stuttgarter Kickers e.V. ist ein traditionsreicher Sportverein mitten aus der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg. Die bekannteste Abteilung des Vereins sind die Fußballer, die seit dem Jahr 1905 im heutigen Gazi-Stadion auf der Waldau, dem ältesten Stadion in Deutschland, ihre Heimspiele austragen. Die spielerische Heimat des Vize-Meisters von 1907/08 ist heute die Oberliga Baden-Württemberg.
Herr Becher, die Oberliga Baden-Württemberg befindet sich offiziell aufgrund der Pandemie in einer längeren Pause. Als Geschäftsführer der Stuttgarter Kickers wissen Sie doch bestimmt schon mehr. Gibt es schon kommunizierte Pläne für eine Wiederaufnahme?
Matthias Becher: Die Oberliga Baden-Württemberg ist nicht überregional und daher ist derzeit kein Spielbetrieb. Die Verbände haben entschieden, dass in den unteren Klassen diese Saison nicht weitergespielt wird und der Spielbetrieb abgebrochen wird. Wir rechnen aber damit, dass es zur neuen Saison in allen Spielklassen wieder losgehen darf.
In der Vorsaison war man der große Verlierer des Saisonabbruchs. Sportlich steht man auf dem 2. Platz. Gibt es Mittel und Wege, sollte der schlimmste Fall eintreten, einen erneuten Abbruch zu verhindern?
Matthias Becher: In der Regionalliga und allen anderen höheren Ligen wird aktuell gespielt, mit entsprechenden Auf- und Absteigern. Da wir mit den Kickers gerade Zweitplatzierte sind, erhoffen wir uns natürlich, dass zumindest Relegationsspiele noch stattfinden und wir zum Ende der Saison so den Aufstieg in die Regionalliga erreichen können.
Die Pandemie wird mit der Zeit auch zum finanziellen Rechenspiel. Wie steht es um den Gesamtverein … und wie lange könnte der Verein diese Situation generell noch weiter stemmen?
Matthias Becher: In erster Linie schmerzt es jeden … den Verein, die Spieler, die Trainer, dass wir unserem Umfeld keine Spiele anbieten dürfen. Alle sehen sich nach dem sportlichen Wettkampf, dem Erlebnis des Live-Fußballs im GAZi-Stadion auf der Waldau.
Gleichzeitig fehlen dem Verein damit wichtige Einnahmen und durch die fehlenden Spiele im Stadion können wir Verträge mit unseren Partnern nicht wie vorgesehen bedienen. Zum Glück haben wir bis heute von Sponsoren und Partnern, genauso wie von den Fans, aber auch von der öffentlichen Seite eine enorme Unterstützung erfahren. Das zeigt, wie groß der Zusammenhalt rund um die Kickers ist und das ist ein tolles Gefühl.
Wie ernsthaft die Situation durch den anhaltenden Stopp im Spielbetrieb sich bis zum Sommer hin entwickelt, hängt weiterhin sehr stark von der Unterstützung der Sponsoren, Fans und auch der öffentlichen Stellen ab.
Aber in unserem Verein sind auch noch andere Abteilungen wie zum Beispiel die Leichtathleten oder Handballer betroffen. Sie können nur sehr eingeschränkt ihren Sport ausüben und können kein Gefühl der Gemeinschaft geben.
Gehen wir jetzt einmal von der wünschenswerten Wiederaufnahme der Saison aus. Wie ist der aktuelle Fitnesszustand im Team? Wie halten sich die Spieler so ganz ohne konkrete Zielsetzung überhaupt fit?
Matthias Becher: Da betreten alle Mannschaften absolutes Neuland. Im Winter hatte sich unsere erste Mannschaft auf freiwilliger Basis im Heimtraining fitgehalten. Wir haben das große Glück, durch unsere professionellen Bedingungen sowie das Hygienekonzept auf dem ganzen Trainingsgelände seit Mitte März wieder trainieren zu dürfen. Und im Nachwuchsleistungszentrum dürfen die älteren Nachwuchsteams trainieren. Aktuell bereitet sich unsere erste Mannschaft im Training auf mögliche Relegationsspiele vor. So haben die Spieler derzeit ein Ziel. Wir sind natürlich froh, dass wir auch dem Nachwuchs wieder das Training anbieten können. Die Jugend ist im Verein eine wichtige Säule. Mit der Überschrift vom „Talent ins Stadion“ zeigen wir immer wieder, wie wichtig die Verzahnung zwischen der Jugend und der ersten Mannschaft ist. Für eine gute Entwicklung der Spieler ist der ausbleibende Betrieb schwerwiegend. Die Nachwuchstrainer versuchen das, mit zusätzlichem Aufwand, so gut wie möglich zu kompensieren.
Die Fitness des aktuellen Kaders ist ein Punkt. Wie kann man in der heutigen Zeit für eine Zukunft planen?
Matthias Becher: Unser sportlicher Leiter Lutz Siebrecht ist nicht zu beneiden. Umso glücklicher sind wir, dass im Winter sein Vertrag und auch der von Chef-Trainer Ramon Gehrmann langfristig verlängert und beide an den Verein gebunden wurden. Die sportlichen Vorbereitungen bezüglich der Kaderplanung können daher so gut wie möglich getroffen werden. Ich erlebe Lutz Siebrecht bei seiner Arbeit als absoluten Experten. Mit einem passenden Trainerteam und einem guten Austausch untereinander wird hervorragende Arbeit geleistet … ich habe ein gutes Gefühl.
Die finanzielle Situation und auch die Unsicherheit der Ligazugehörigkeit machen die Prognose schwer und die Arbeit sehr anspruchsvoll. Deshalb können die Kickers froh sein, im Präsidium und im sportlichen Bereich nicht nur Experten zu haben, sondern dass alle in enger Abstimmung und Austausch stehen. Das stimmt mich optimistisch, dass die richtigen Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden.
Wie sehen die sportlichen Ziele der Kickers in den kommenden Jahren aus? Ist der große Fußball heute ein realistisches Ziel?
Matthias Becher: Großer Fußball ist für mich eine Mannschaft, die sich gemeinsam auf den Weg macht, Step by Step ihre Ziele zu erreichen. Dazu gehört auch ein Umfeld und Fans, die nicht nur den Verein unterstützen, sondern sich damit auch identifizieren.
Der hier nun eingeschlagene Weg mit der sportlichen Führung und der Idee einer Mannschaft mit Talenten aus der Region, die für unsere Kickers alles geben und durch unseren eigenen starken Nachwuchs aus dem NLZ, der zukünftig noch mehr eingebunden wird, geht das genau in die richtige Richtung.
Die Rahmenbedingungen, die wir beeinflussen können, die stimmen und es sind die richtigen Ambitionen. Hier schlägt zu Buche, dass über die Ausrichtung des Kurses eine Einigkeit herrscht.
Die aktuelle Phase der Pandemie war eine weitaus größere Herausforderung für den Verein als die üblichen sportlichen Etappen. Wenn wir im Verein weiterhin so zusammenhalten, bin ich mir sicher, dass diese Arbeit sich in der Ligazugehörigkeit widerspiegeln wird. Dazu ist der Aufstieg in die Regionalliga Südwest klar das erste Ziel und der nächste Schritt aus unseren Ambitionen heraus, aber nicht die letzte Etappe in den kommenden Jahren
Der schnellste Weg in den bezahlten Fußball ist bekanntlich der DFB-Pokal. In diesem Jahr steht man auch schon wieder im Halbfinale des WFV-Pokals. Es geht gegen die höherklassigen Balinger … Wie sehen Sie die Chancen diesen Wettbewerb zu gewinnen?
Matthias Becher: An die bisherigen Pokalspiele erinnere ich mich gerne zurück und jetzt haben wir zur Belohnung ein weiteres Heimspiel gegen die TSG Balingen. Klar möchte die Mannschaft auch das Finalticket ziehen. Aktuell ist das Halbfinale nicht terminiert und entsprechend die Rahmenbedingungen völlig unklar, um eine seriöse Prognose über die Chancen der Kickers abgeben zu können. Aktuell sind wir nur dankbar, dass wir wieder spielen dürfen. Und auch wenn Balingen Favorit sein wird, weil ja auch hinzukommt, dass der Regionalligist aus dem normalen Spielbetrieb kommt und man von Chancengleichheit nicht sprechen kann, werden wir alles in dieser Partie geben, um ins Finale im eigenen Stadion einzuziehen.
Der VfB Stuttgart spielt in der Bundesliga. Die Stuttgarter Kickers aktuell nur in der Oberliga. Der Fußball lebt auch von diesen regionalen Rivalitäten. Wer ist heute denn der natürliche Gegner der Kickers?
Matthias Becher: Die beiden großen Verein in Stuttgart stehen für mehr als nur ihre aktuelle Ligazugehörigkeit. Wer ein Heimspiel unter Normalbetrieb in unserem GAZi-Stadion auf der Waldau miterlebt, spürt ganz schnell das familiäre Miteinander. Die Begeisterung auf den Stehplätzen direkt auf der Seitenlinie und den puren Fußball, den wir auf der Waldau bieten können, darauf sind wir stolz. Und in all den Jahren haben die „Blauen“ ein Umfeld, das auch mit sportlichen Rückschlägen umgehen kann. Gerade in jüngster Vergangenheit, in den vorangegangenen Saisons zeigte sich, wie stark und leidenschaftlich das Umfeld zusammengehalten hat und sich gemeinsam auf den Weg macht. Egal ob im Umfeld der ersten Mannschaft oder bei unserem anhaltend starken Nachwuchs in der Junioren Bundesliga. Wir gehen hier unseren eigenen Weg, der nicht immer in sportlichen Ergebnissen festzumachen ist. Wir sind stolz auf die fairplay-Aktion unseres Trainers Ramon Gehrmann, der die Kickers weltweit in die Schlagzeilen gebracht hat, Und auch auf dem Spielfeld kommt es zu Derbys. Absolut unvergessen der 3:0-Sieg in Reutlingen und die tolle Ansprache unserer Ultraszene vor dem Spiel. Wie wir daheim verabschiedet und nach dem Auswärtssieg willkommen wurden, das sind besondere Erinnerungen und man merkt, dass es um mehr geht, als um die drei Punkte.
Betrachtet man die Historie der Kickers, so haben viele große Namen erst das Laufen mit Ball hier in Degerloch für sich entdeckt. Doch Karriere haben u.a. Guido Buchwald, Jürgen Klinsmann oder Fredi Bobic beim VfB gemacht. Wie so konnte man Talente nie halten?
Matthias Becher: Zunächst: Wir sind stolz, dass wir diese internationalen Stars ausbilden durften. Wir sind stolz darauf, dass wir zu fast allen ehemaligen Spielern der Kickers einen sehr guten Kontakt haben, das ist Teil unserer Vereinskultur. Bei allen genannten Talenten war es klar, dass wir sie nicht ewig halten konnten, aber wir haben unseren Teil zu ihrer Karriere beitragen … dazu gehört auch loslassen.
Und trotzdem haben wir aus grundsätzlichen Erwägungen in der aktuellen Situation wieder einmal mehr gezielt an Stellschrauben in unserem NLZ gedreht, um unseren Nachwuchsspielern ein möglichst gutes Umfeld zu schaffen und ihnen dadurch den anspruchsvollen Sprung „vom Talent ins Stadion“ zu ermöglichen. Ich denke, die Vorrausetzungen es aus einem NLZ in die erste Mannschaft zu schaffen sind bei uns aktuell besser als in jedem anderen Verein in ganz Deutschland. Wenn unsere Nachwuchstrainer wie bei den prominenten Beispielen aus der Vergangenheit auch aktuell ein derart starkes Umfeld bieten, um die Toptalente aus der Region von unserer Idee zu überzeugen und sie sich bei uns gar zu Nationalspielern entwickeln, dann denke ich, dürfen wir auch zukünftig stolz darauf sein Spieler nicht nur in unser GAZi-Stadion zu begleiten, sondern von dort aus auch eines Tages den Sprung in die größeren Arenen in dieser Fußballwelt schaffen. Auch für einen solchen Fall wollen wir im Nachwuchs weiter für die absolute Spitze ausbilden.
Gleichzeitig werden bei uns mit Top-Talenten gemeinsam mit Lutz Siebrecht und dem sportlichen Leiter des NLZ Norbert Stippel Perspektivgespräche geführt. Wir wollen nicht erst den Spielern in der U19 eine klare Perspektive in Bezug auf den Sprung in die erste Mannschaft geben. Das muss bereits früher passieren und so werden entsprechende Verträge angeboten. Bei einigen Gesprächen war ich selbst dabei und habe gemerkt, dass es positiven Eindruck macht, wenn wir mit unseren perspektivischen Angeboten an die Nachwuchsspieler geschlossen als Nachwuchs, erste Mannschaft und Vereinsführung unseren skizzierten Weg untermauern
Abschließend Herr Becher: Seit 1905 spielen die Stuttgarter Kickers immer in Degerloch, im selben Stadion. Einzigartig in Deutschland! Warum hat der Klub eigentlich nie seine Spielstätte verlassen, gewechselt?
Matthias Becher: Das GAZi-Stadion auf der Waldau steht als ein Symbol für das, was die Kickers ausmacht. Inzwischen mit einer neugebauten Haupttribüne, die einen tollen Businessbereich mit vielen Möglichkeiten bietet. Das ist auch ein Stück Heimat und Identität. Mit dem Stadion haben wir zudem die Rahmenbedingungen, in höheren Ligen zu spielen. Die Zusammenarbeit mit der Stadt, die Eigentümerin des Stadions ist, ist hervorragend. Vor allem aber stehen die Fans an der Seitenlinie und es ist eben dieser Fußball Pur. Das macht das besondere Erlebnis aus, das wir sehr gerne in Konkurrenz zu den modernen Multifunktionsarenen in Fußballdeutschland stehen und auf das wir auch weiterhin stolz sein werden. (LB/TX)
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