Theresa Henschel-Boese: „Leider ist die Dunkelziffer immer noch viel zu hoch“
Mit dem Schutzkonzept „Wo ist Lotte?“ hilft Hertha BSC Berlin ab sofort betroffenen Menschen von Diskriminierung im Umfeld des Stadionbesuchs. Bei den Heimspielen im Berliner Olympiastadion kommen zehntausende Menschen allein für die schönste Nebensache der Welt zusammen. Das „blau-weiße Wohnzimmer“ soll dabei wirklich für alle Stadionbesuchenden ein Ort des Wohlfühlens sein, so die offizielle Leiterin.
Warum hat man diesen Namen gewählt, als nicht Berliner kann ich damit nichts anfangen, was steckt dahinter?
Theresa Henschel-Boese: Wir haben uns bei der Wahl an bestehenden Konzepten orientiert. 2016 startete der Münsteraner Frauennotruf die Kampagne „Luisa ist hier!“ und schuf damit ein Hilfsangebot für Frauen und Mädchen bei sexueller Belästigung. Mit dem Code „Ist Luisa hier?“ konnten sich Gäste ganz unauffällig an das Bar- und Clubpersonal wenden. Das Prinzip wurde in den letzten Jahren von verschiedenen Vereinen adaptiert. Borussia Dortmund arbeitet etwa mit dem Code „Wo geht’s nach Panama?“, Werder Bremen mit „Kennst du Mika?“ … in der Hoffnung und dem festen Glauben, dass es in Zukunft ein bundesligaweites Konzept geben wird, haben wir uns dazu entschlossen das bestehende Muster aufzugreifen. Letztlich haben wir uns in Anlehnung an den Berliner Bezirk Charlottenburg, in dem unser Olympiastadion steht, für den Namen „Lotte“ entschieden.
Was hat den Ausschlag gegeben für „Wo ist Lotte“?
Theresa Henschel-Boese: An einem durchschnittlichen Spieltag strömen mehr als 550.000 Menschen in die deutschen Fußballstadien. Also über eine halbe Millionen Menschen, die sich in ihrem Alter, ihrer Herkunft und Nationalität, ihrem Geschlecht und ihrer geschlechtlichen Identität, ihren kognitiven und körperlichen Fähigkeiten, ihrer Religion und Weltanschauung, ihrer sexuellen Orientierung sowie ihrer sozialen Herkunft unterscheiden. Entgegen weitverbreiteten Behauptungen spiegelt aber das Publikum in Fußballstadien die Gesamtgesellschaft nicht adäquat wider. Noch immer ist es überwiegend männlich, weiß und heterosexuell geprägt. Weniger als ein Viertel des Publikums ist weiblich, während nicht einmal 10 Prozent der zuschauenden Fans einen Migrationshintergrund aufweisen. Und auch wenn der öffentliche Umgang mit diskriminierenden Vorfällen einen spürbaren Wandel durchläuft, wird das Stadion von den Menschen nicht als sicherer Raum wahrgenommen. Gewalt, auch sexualisierte Gewalt, unter den Leuten vor Ort sowie persönliche und strukturelle Diskriminierung aufgrund zugeschriebener Merkmale sind nach wie vor weit verbreitet.
Vor diesem Hintergrund haben wir ein Konzept entwickelt, dass die betroffenen von Diskriminierung und jeglicher Gewalt in den Fokus rückt und ihnen ein effektiveres Hilfs- und Schutzangebot an Spieltagen und drüber hinaus verschafft.
Das erste Heimspiel der Saison ist rum, gibt es zu dem Konzept denn schon erste positive Rückmeldungen?
Theresa Henschel-Boese: Wenn mit „positiven Rückmeldungen“ gemeint ist, dass uns für die Schaffung eines solchen Schutz- und Hilfsangebots gedankt wurde, da viele Menschen den Bedarf hierfür erkennen oder bedürfen, dann ja. Ansonsten gibt es bei diesem sensiblen Thema kein „positiv“. Schon am ersten Spieltag wurde das Angebot in Anspruch genommen, wir sind aber auch überzeugt, dass die Dunkelziffer leider immer noch viel, viel höher ist. (LB)