Thomas Krücken: „Wir schauen auf die Persönlichkeitsentwicklung im Nachwuchs“.
Mit seinen Fußball-Profis hat der VfB Stuttgart mehr oder weniger schon alles erlebt. Doch völlig unabhängig vom jeweiligen Tabellenstand des kickenden Toppersonals muss man den Unterbau des Traditionsvereins betrachten; hier sind die Schwaben seit Jahren nationale Spitze. Verantwortlich für die nachhaltig gute Talentförderung ist das Nachwuchsleistungszentrum unter Führung von Direktor Thomas Krücken.
Herr Krücken, die „jungen Wilden“ des VfB Stuttgart sind jedem, der sich mit Fußball befasst, ein Begriff. Doch die Zeiten haben sich geändert. Was für ein Leitbild verfolgen Sie heute mit dem Nachwuchsleistungszentrum?
Thomas Krücken: Das Leitbild ist entstanden, als wir uns als kleine Arbeitsgruppe mit Thomas Hitzlsperger zusammengesetzt haben. Es soll widerspiegeln, was wir im Alltag machen und welche Art von Fußball wir spielen lassen wollen. Die entwickelte Spielidee „offensiv-mutig-jung“ wird so umgesetzt, dass diese mit der Verzahnung einzelner Fachbereiche einhergeht und die Entwicklung der Spieler von der U11 bis zur U21 progressiv vorantreibt.
Ziel ist es, Talente aus dem Nachwuchsleistungszentrum für die erste Mannschaft zu entwickeln und ihnen dabei die DNA des VfB Stuttgart, die über das „magische Dreieck“ oder aber auch Ralf Rangnick und andere Trainer, eben die unsere Art von Fußball stark mit geprägt haben, bewusst zu verinnerlichen. Dies ist sehr aufwendig und benötigt viel Manpower, aber wir versuchen dieser tollen Aufgabe mit unserem Team gerecht zu werden. Das Leitbild ist also eine ganzheitliche Ausbildung zum Fußballprofi, mit dem Wissen, dass es in Deutschland am Ende nur gut 2 Prozent wirklich schaffen. Das heißt folglich, wir haben auch als gesamter Verein eine hohe soziale Verantwortung, also die Doppelbelastung Leistungssport und Schule unter ein Dach zu bekommen. Dies betreiben wir mit unseren Kooperationspartnern, so dass ab der U16 siebenmal die Woche trainiert wird, davon dreimal vormittags. Die Partnerschulen ermöglicht dies und wir schauen, dass der Spieler den angestrebten Schulabschluss schaffen kann.
Weiterhin schauen wir auf die Persönlichkeitsentwicklung im Nachwuchs. In diesem Bereich führt unser Leiter Oliver Otto verschiedene Maßnahmen durch. Seminare oder spezielle Workshops, die die Nachwuchsspieler auf potenzielle Problematiken, die auf sie als Profi zu kommen könnten, vorbereiten. Hier sind die Themen Doping, Wettmanipulation, mentales Training und der allgemeine Umgang mit Stress nur als Beispiel genannt. Dies geschieht in enger Kooperation mit den Eltern. Wir sind noch der einzige Bundesligist, der einen hauptberuflichen Elternbeauftragten hat. Kurz: Wir wollen den Weg der Persönlichkeitsentwicklung eines Spielers, der unser VfB-Trikot trägt, intensiv begleiten.
Zu dem Leitbild gehört auch: Sollte es für den VfB Stuttgart nicht reichen, lassen wir den Spieler nicht fallen, sondern suchen gemeinsam eine Lösung und unterstützen den Spieler auf diesem Weg.
Ab wann geht es für die Talente in Stuttgart los?
Thomas Krücken: Unsere jüngste Mannschaft ist die U11. Wir haben in den letzten beiden Jahren festgelegt, dass wir uns um die besten Bewegungstalente der Region bemühen müssen. Region bedeutet einen Radius von bis zu 120 Kilometer rund um Stuttgart. Die Mehrheit hat in diesem Umkreis eine Affinität zum VfB Stuttgart, und damit wären wir wieder bei der DNA des Vereins.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist: Wenn ein motorisch hochbegabtes Kind zum Beispiel von der Ostalb einen zu langen Weg zum Training hat, kooperieren wir mit dem VfR Aalen. Die Talente trainieren dort normal mit und einmal pro Woche stoßen unsere Trainer dazu und trainieren die Bewegungstalente zusätzlich. Zudem bieten wir diesen Kooperationspartnern über eine digitale Plattform neue Trainingsinhalte und mehr an. Wir leben Kooperationen mit Qualität.
Der VfB Stuttgart stellt seit Jahren in seiner Staffel die besten Mannschaften in der U17 und U19. Warum kommen die Talente so gerne nach Stuttgart?
Thomas Krücken: Auch in dieser Altersklasse kommen die meisten Spieler aus der Region. Wenn wir uns für ein Talent entschieden haben, haben wir den Anspruch, dass dieses dann auch langfristig den Weg mit uns geht. Natürlich haben wir auch Spieler wie Mohamed Sankoh oder Alexis Tibidi verpflichtet, das sind besondere Spieler, das wird es immer wieder geben. Doch der Schwerpunkt liegt auf lokalen, regionalen Spielern für unseren Unterbau. Aber ich will an dieser Stelle auch ehrlich sein, es hat auch immer etwas mit den finanziellen Mitteln zu tun. Wir können nicht mit den großen Vereinen mithalten.
Doch viel wichtiger und bemerkenswerter ist, dass sich die Spieler für die Inhalte beim VfB Stuttgart entschieden haben. Das ist auch der Schlüssel für die Erfolge im Unterbau, und ein Grund, warum wir so viele Nationalspieler ausgebildet haben und gerade in der Jugend wieder stellen.
Natürlich darf man an dieser Stelle auch nicht die tolle Arbeit des gesamten Teams vergessen. Hier sind so viele tolle Menschen involviert, die mit Herzblut die Talente zu Spielern sowie Menschen formen.
Der entscheidende Schlüssel in den letzten Jahren war aber Thomas Hitzlperger mit seiner Haltung, die er in den gesamten Bereich hat einfließen lassen und die ich mit meinem Team umgesetzt habe und weiterhin umsetze. Wir müssen begreifen, ein Verteidiger braucht zum Beispiel andere Trainingsinhalte als ein Außenbahnspieler. Das zu erkennen und umzusetzen ist die Herausforderung, der wir uns stellen. Die Zeit des Gießkannenprinzips ist rum!
Kommen denn neue Talente für die Profis nach?
Thomas Krücken: Wir stehen mit der A-Jugend im DFB-Pokalfinale gegen Borussia Dortmund und mit derB-Jugend standen wir im Finale um die Deutsche Meisterschaft gegen Schalke 04. Das sind tolle Erfolge, die wir sehr gerne mitnehmen, aber primär geht es uns um die Entwicklung der Spieler. Wir sprechen also über Jahrgänge, die Spieler in ihren Reihen haben, die definitiv das Zeug haben, in Zukunft für den VfB Stuttgart in der Mercedes-Benz Arena zu spielen.
Dafür müssen wir die richtigen Inhalte vermitteln und die Spieler müssen bereit sein, hart an sich und für dieses große Ziel zu arbeiten.
Was macht die weitere Karriere nach der A-Jugend so schwer?
Thomas Krücken: Das ist ein sehr, sehr sensibler Bereich. Hier kann man sehr viel richtig machen, jedoch auch alles falsch. Ich stehe dazu im permanenten Austausch mit Pellegrino Matarazzo und Peter Perchtold, sowie einem Sportwissenschaftler allein nur zur Belastungssteuerung, den Trainern der U21 sowie der U19. Wir treffen uns einmal pro Woche, diskutieren über die einzelnen Spieler und entwickeln dann gemeinsam die weiteren Planungen. Unser Cheftrainer ist Talenten gegenüber sehr offen. Was förderlich ist.
Bei uns gilt das Leistungsprinzip, diesem folgend haben die Spieler die Möglichkeit, sich Trainingszeiten bei den Profis zu erarbeiten. Pellegrino Matarazzo fordert die Jungs dann auch richtig! Natürlich sind während der Länderspiele oder wenn wir ins Trainingslager fahren auch immer wieder Spieler aus dem Nachwuchs dabei, aber mir ist es wichtig, dass man den jungen Spielern im normalen Wettkampfbetrieb die Möglichkeit gibt, mit zu trainieren. Mohamed Sankoh ist da ein sehr gutes Beispiel, der sich regelmäßig Trainingszeiten erarbeitet hat und über diese sogar zu einem festen Bestandteil wurde.
Darüber hinaus tausche ich mich auch alle zwei Wochen mit Sven Mislintat, Markus Rüdt und Alexander Wehrle aus, zuvor natürlich mit Thomas Hitzlsperger. Es geht dabei um Spielerentwicklung im strategischen Sinn. Ich gebe schonungslos Auskunft über den Stand im Nachwuchsleistungszentrum und was in welchen Fachbereichen gerade gemacht wird. Es sind offene Gespräche, es sind konstruktive Gespräche, es geht nur um die Sache. Schließlich ist es unser Job, Spieler für den VfB Stuttgart zu entwickeln, wobei ich zum Abschluss aber auch noch einmal auf unsere soziale Verantwortung verweisen möchte. Nicht einmal 2 Prozent werden Profis, und daher ist es unsere Pflicht, diese jungen Menschen auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen ein Rüstzeug zu geben. (LB)
Danke für die interessanten Einblicke!